Alle an Bord!
Für gelebte Inklusion und ein barrierearmes Stadionerlebnis geht der HSV in den Austausch – so wie beim Fandialogformat Rautenschnack. Ein Besuch und ein Stadionrundgang.
An einem sonnigen Donnerstagabend Mitte September 2024 sind Olaf Kuzel und Yasmin Boer zwei von zwei Dutzend Besuchenden bei der sechsten Ausgabe des Rautenschnacks. Einmal im Quartal treffen sich Interessierte zum Themenfeld Inklusion beim HSV. Das Fandialogformat löste im Mai 2023 nach acht Jahren den „SAI – Ständiger Arbeitskreis Inklusion“ ab. Der Rautenschnack ist bewusst offen für Menschen mit und ohne Behinderung. „Inklusion geht uns alle an“, sagt Fanny Boyn, die im Team Fankultur der HSV Fußball AG für Inklusion und Diversität zuständig ist. Fanny führt durch die einstündige Gesprächsrunde. „Es hat sich einiges getan“, sagt sie und schaut in nickende Gesichter.
Das Fazit ist klar: „Es ist einfach der Knaller!“, sagt Olaf Kuzel. Viel entspannter sei der Stadionbesuch für ihn und die anderen Mitglieder vom Fanclub HSV-Rollis, seit der HSV seine Spielstätte im Volkspark von Anfang 2023 bis Sommer 2024 umgebaut und modernisiert hat. Dabei immer im Blick: ein gutes Stadionerlebnis für alle. Für Olaf bedeutet das mehr Rollstuhlplätze zur Auswahl, dazu endlich nummeriert, und das Beste: „Wenn wir aufs gegnerische Tor zulaufen und alle Fans aufspringen, kann ich endlich sehen, ob der Ball reingeht.“ Olaf Kuzel besucht das Volksparkstadion seit 50 Jahren, seit 13 Jahren ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Endlich wieder die volle Sicht zu haben, das ganze Stadionerlebnis zu fühlen, das bedeutet Olaf sehr viel. Ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig Inklusion ist – und auch der Austausch darüber.
Rollstuhlplätze mit Aussicht
Im Vorfeld der UEFA EURO 2024 im Volksparkstadion hat der HSV in Sachen Inklusion einiges bewegt. Bei einem Stadionrundgang vor dem Rautenschnack zeigt Fanny Boyn die Orte, an denen zuletzt gearbeitet wurde. Erster Haltepunkt sind die Rollstuhlplätze im Süden. Die vielleicht wichtigste Neuerung für Rollstuhlfahrende wie Olaf Kuzel: Die Sitzreihe direkt vor den Rollstuhlpodesten wurde entfernt. Wurde es früher spannend, sprangen dort oft die Fans auf und versperrten den Rollstuhlfahrenden die Sicht, nun ist der Blick frei, über volle 90 Minuten plus Nachspielzeit. So ein Abbau von Sitzplätzen fällt einem Proficlub nicht leicht. Denn weniger Sitzplätze bedeuten auch weniger Ticketing-Erlöse. „Wir sind sehr froh, dass wir das umsetzen konnten“, sagt Fanny Boyn beim Blick vom Rollstuhlpodest ins Stadion.
Nicht nur die Sichtachse ist besser geworden, sondern auch die Anzahl der Plätze ist gestiegen. Statt 75 gibt es nun 130 Rollstuhlplätze, zur Freude vieler neuerdings auch im Nordwesten ganz in der Nähe der Nordtribüne. Auch neu: Jede Begleitperson hat einen festen Sitzplatz. Und weil die Stellplätze jetzt nummeriert sind, fällt Stress weg für die, die im Rollstuhl zum Spieltag kommen.
Im Austausch mit Fans merkt Fanny trotz aller Fortschritte immer wieder, was noch besser werden kann. Das wird auch beim Rautenschnack deutlich. „Aktuell fehlen Abfalleimer auf den Rollstuhlpodesten“, sagt Olaf Kuzel. Und dann dreht es sich um die Frage, wie diese aussehen können und wo sie am besten hängen sollten.
Zusätzlich zu den Rollstuhlplätzen gibt es seit der Saison 2024/25 in Block 11A 20 Plätze direkt am Gang und nicht weit entfernt vom Eingang, die als Easy-Access-Plätze bezeichnet werden. Diese Plätze können per E-Mail an fankultur@hsv.de angefragt werden, wenn die eigene Mobilität eingeschränkt ist. „Wir vertrauen den Fans bei der Bestellung, gehen am Spieltag aber auch in den Dialog zu den individuellen Bedürfnissen“, sagt Fanny Boyn.
Mehr Komfort
Zwei weitere Modernisierungsmaßnahmen machen das Stadionerlebnis für Menschen mit eingeschränkten Seh- oder Hörfähigkeiten attraktiver. Das neue Flutlicht und die neue Beschallungsanlage sorgen für mehr Durchblick und Verständnis. Diese Maßnahmen sind ein Puzzleteil für ein besseres Stadionerlebnis für alle – ein erklärtes Ziel des HSV.
Ein weiteres Puzzleteil stellt seit Mitte Mai 2024 die „Toilette für alle“ dar, dank derer auch Menschen mit komplexen und mehrfachen Behinderungen das Stadion besuchen können. Die elf Quadratmeter große Toilette befindet sich im südlichen Umlauf des Volksparkstadions. Die Anlage ist an Spieltagen mit einem Euro-WC-Schlüssel zugänglich und entspricht den Anforderungen an eine barrierefreie Toilette gemäß der DIN 18040-1. Ausgestattet ist sie mit einer frei stehenden, höhenverstellbaren Pflegeliege, einem Deckenlifter mit Traversensystem sowie einem luftdicht verschließbaren Mülleimer für die geruchsneutrale Entsorgung von Inkontinenzeinlagen.
Auch an dieser Stelle wird beim Rautenschnack deutlich, was noch verbessert werden kann. Gleich mehrere Teilnehmende merken an, dass an der „Toilette für alle“ rote und grüne Leuchten fehlen, die zeigen, ob die Toilette frei ist – ein Problem, denn mit dem Euro-WC-Schlüssel, den die Rollstuhlfahrenden meist dabeihaben, lässt sich die Tür auch öffnen, wenn gerade jemand im Raum ist.
Nicht sichtbar und doch vorhanden
Nicht jede Behinderung ist sichtbar. Fanny Boyn erklärt beim Rundgang durchs Stadion, wie die Anlauf- und Schutzstelle Ankerplatz auch für Menschen mit beispielsweise Angststörungen oder Epilepsie ein wichtiger Hafen sein kann, wenn es am Spieltag mal zu viel wird.
Kontakt zum Ankerplatz
Der Ankerplatz befindet sich im Umlauf hinter Block 22/23A. Fans, die Hilfe und/oder Rat suchen, können sich ab Stadionöffnung bis eine Stunde nach Abpfiff vor Ort oder telefonisch unter +49 40 4155-2222 melden. Außerhalb der Spieltage ist die Kontaktaufnahme zusätzlich per E-Mail an ankerplatz@hsv.de möglich.
Falls der Weg zum Ankerplatz zu weit ist, können die neuen Sensory Bags zum Einsatz kommen. Diese besonderen Taschen sind nicht nur im Ankerplatz, sondern auch auf Anfrage per E-Mail an fankultur@hsv.de am Spieltag entleihbar. Auf den ersten Blick ist der Inhalt unscheinbar. Ein Igelball, den manche von der Physiotherapie kennen, eine Gewichtsweste, Fingerspielzeug, Kopfhörer, Sonnenbrille. „Die Tasche war meine Rettung“, sagt Yasmin Boer im Rautenschnack. „Ich bin Autistin, auch wenn man mir das nicht ansieht.“ Einen Schwerbehindertenausweis hat sie noch nicht, die neurodiverse Besonderheit wurde erst vor Kurzem diagnostiziert. Bei einem Auswärtsspiel wurde es zu viel, erzählt sie. Die Anfahrt in der vollen Bahn, das Gedränge am Eingang und dann wurde sie noch von einer Ordnerin abgetastet. „Das fühlt sich für mich wie Stromschläge an“, berichtet sie. Fanny Boyn gab ihr die schwere Weste aus dem Sensory Bag, die Halt und Erdung geben soll, dazu die dunkle Sonnenbrille, um Reize zu reduzieren, und ein Fingerspielzeug, um abzulenken. Damit wurde es besser, Yasmin Boer konnte ins Stadion. Manche fragen die junge Frau: Ist es das wert, diese Aufregung, die Panik, die Angst, nur für ein Fußballspiel? Aber Yasmin möchte nicht ohne. „Wenn der Capo mit dem Megafon in der Kurve ruft, die Trommelschläge donnern, dann bin ich in mir so ruhig wie sonst nie“, sagt sie.
Immer im Austausch
„Wir sind auf dem Weg“, sagt die Fanbeauftragte Fanny Boyn. Je mehr Menschen beim Thema Inklusion wissen, worauf es Betroffenen ankommt, desto besser geht es auf diesem Weg voran. Darum geht es auch im Rautenschnack. Die Perspektiven von Personen mit unterschiedlichen Bedürfnissen einzuholen, daraus Ideen wachsen zu lassen und diese so umzusetzen, dass das Stadionerlebnis besser wird. Stück für Stück und von Spiel zu Spiel.
SDGs?
SDGs ist die Abkürzung für Sustainable Development Goals. Es handelt sich um 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, die von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden.