Foto: Witters
600 Minuten Nachspielzeit
Beim Heimspiel im Volksparkstadion sorgt eine Zahl für Aufsehen: die gemeinsame Kampagne der Hamburger Sozialbehörde und des HSV gegen häusliche Gewalt.
Viele der 57.000 Zuschauerinnen und Zuschauer im ausverkauften Volksparkstadion staunen an diesem Sonntagnachmittag des 3. November 2024 nicht schlecht, wenden sich mit fragendem Blick und Gesprächsbedarf anmeldend ihren Nebenstehenden oder -sitzenden zu oder zücken schnell ihr Mobiltelefon, um den Moment im Foto festzuhalten. Im Zweitliga-Heimspiel des HSV gegen den 1. FC Nürnberg steht es 1:1, die Partie gegen stark aufspielende Gäste steuert dem Schlusspfiff entgegen, als die Nachspielzeit verkündet wird: „600 Minuten“ ist da in riesigen Ziffern und Lettern auf den jeweils 62 Quadratmeter großen Anzeigetafeln über der Nord- und der Südtribüne zu lesen.
600? Ernsthaft? Sicher, es hat da das Nürnberger Ausgleichstor gegeben, inklusive ausgiebigem Gästejubel. Dazu vier Gelbe Karten und die Unterbrechungen für insgesamt acht Spielerwechsel. Alles Zeitfresser. Da ist ein üppiger Nachschlag durchaus angebracht. Aber so üppig? Vielleicht ein Kommunikationsfehler des bis hierhin souverän leitenden Gespanns um den jungen Schiedsrichter Tom Bauer? Oder ist in der HSV-Stadionregie jemand auf der Tastatur ausgerutscht und hat versehentlich zwei Nullen an die nachvollziehbare Sechs angehängt? Da stimmt doch was nicht!
Ein Zahlenspiel mit ernstem Hintergrund
Völlig richtig: Da stimmt etwas nicht! Die „600 Minuten“ weisen nämlich auf ein gravierendes gesellschaftliches Problem hin: Sie stehen symbolisch für ein Thema, auf das die Hamburger Sozialbehörde an diesem Nachmittag in Kooperation mit dem HSV aufmerksam machen will: In Deutschland wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer physischer und/oder sexualisierter Gewalt durch ihren früheren oder aktuellen Partner. Viele Betroffene leiden oft jahrelang unter den Demütigungen und der Gewalt. Das Dunkelfeld solcher Fälle ist groß, da es vielen Betroffenen schwerfällt, sich Hilfe zu suchen und den Kreislauf zu durchbrechen.
Untersuchungen zeigen, dass die Kriminalitätsraten häuslicher Gewalt gegen Frauen in den zehn Stunden (600 Minuten) nach Fußballspielen einen signifikanten Höhepunkt erreichen. Die angezeigte exorbitante Nachspielzeit soll nicht nur diese alarmierende Statistik in den Fokus rücken, sondern auch zur Aufklärung und zur Sensibilisierung beitragen. Es ist dabei nicht das Ziel, Fußballfans pauschal in ein schlechtes Licht zu rücken. Im Gegenteil: Der HSV ist davon überzeugt, dass Fußball das friedliche Miteinander in der Gesellschaft fördert und präventiv wirken kann. Die Realität zeigt jedoch, dass sich in den 600 Minuten nach einem Spiel Fälle häuslicher Gewalt häufen – ein Problem, das weit über den Fußball hinausgeht und viele soziologische und psychologische Ursachen hat. Ursache für den Anstieg häuslicher Gewalt sind Studien zufolge nicht die Fußballspiele an sich, sondern insbesondere der damit verbundene und oft enthemmend wirkende Alkoholkonsum.
Ankerplatz
Der Ankerplatz ist eine Anlauf- und Schutzstelle für Betroffene diskriminierender und sexualisierter Gewalt bei Heimspielen im Volksparkstadion. Zudem fungiert der Ort als Anlaufstelle für Menschen mit beispielsweise Angststörungen und Epilepsie. Der Ankerplatz befindet sich im Umlauf hinter Block 22/23A. Fans, die Hilfe und/oder Rat suchen, können sich ab Stadionöffnung bis eine Stunde nach Abpfiff vor Ort oder telefonisch unter 040 4155-2222 melden. Außerhalb der Spieltage ist die Kontaktaufnahme zusätzlich per E-Mail an ankerplatz@hsv.de möglich.
Gezielte Verwirrung
An der Relevanz dieser aktuellen Botschaften und der Dringlichkeit, etwas dagegen zu unternehmen und sowohl Betroffene zur Hilfesuche als auch Täter zur Therapie zu ermutigen, bestehen keinerlei Zweifel. An der Richtigkeit der auf den Anzeigetafeln im Heimspiel vermeldeten Nachspielminuten jedoch zunächst natürlich schon. Erst recht, als wenig später Fynn Kohn, der Vierte Offizielle des Schiedsrichtergespanns, mithilfe der digitalen Wechseltafel die tatsächlichen Extraminuten dieses Nachmittags vermeldet und eine rot leuchtende „3“ in die Höhe reckt und in die Runde zeigt. Die angesichts dieses Widerspruchs bei zahlreichen Beobachterinnen und Beobachtern – sowohl live vor Ort im Volksparkstadion als auch daheim an den Fernsehschirmen – aufploppenden Fragezeichen löst der HSV zunächst nicht auf. Ganz bewusst. Das dramaturgische Mittel: Aufmerksamkeit durch gezielte Verwirrung und die Provokation eines „Social Buzz“, also das bewusste Herbeiführen eines „Geredes“ und „Gesummes“ über das Thema. Unter dem Schlagwort „#600Minuten“ geht die Aktion auf den Social-Media-Kanälen viral.
Zu diesem Zweck hat der HSV im Vorfeld des Spiels nicht nur die beteiligten Hauptakteure wie Spieler und Mitarbeitende beider Teams sowie die Unparteiischen informiert, sondern vor allem auch reichweitenstarke Medienschaffende und Fanvertretende eingeweiht. In Absprache mit der Sozialbehörde wird der „Buzz“ bis zur Pressekonferenz rund 30 Minuten nach Abpfiff des Spiels laufen gelassen. Bevor dann die beiden Cheftrainer ihre Spielanalysen vortragen, löst HSV-Pressesprecher Philipp Langer die 600-Minuten-Anzeige in einem Eingangsstatement auf – verbunden mit der Bitte, die Kampagne in die aktuelle Berichterstattung einzubinden. Auch der Club selbst nutzt die enorme Reichweite seiner eigenen Medienkanäle, um aufzuklären, zu sensibilisieren und (potenzielle) Täter häuslicher Gewalt direkt anzusprechen. Parallel zur Pressekonferenz geht ein vorbereiteter Infotext zum Thema auf der clubeigenen Website online.
Sichtbare Motive im Hamburger Stadtbild gegen häusliche Gewalt.
Fotos: Hamburger Sozialbehörde
Eine weiterklingende Kampagne
Die Reaktionen zeigen, dass der Plan voll aufging: Im „Gesumme“ nach dem Spiel sind nicht nur die Ereignisse auf dem Rasen, sondern sehr häufig auch diese kuriosen „600 Minuten auf der Anzeigetafel“ das Thema. Die enorme Zahl von Klicks, Postings, Pressekonferenz-Views und zugehörigen Kommentaren belegt das eindrucksvoll.
Mehr noch: Die Nachspielzeit vom Volksparkstadion wird weit über das Spiel hinaus verlängert und ins gesamte Stadtgebiet getragen. Auf Plakaten, digitalen Litfaßsäulen oder im Fahrgastfernsehen der U-Bahn wird mehrere Wochen lang auf das Thema „häusliche Gewalt“ aufmerksam gemacht, unter anderem mit einer Art Liveticker, der die Plötzlichkeit ihres Auftretens verdeutlicht und zugleich für ihre vielfältigen Erscheinungsformen – etwa Stalking, soziale, sexualisierte, psychische und physische Gewalt – sensibilisiert.
Gemeinsam gegen häusliche Gewalt
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SDGs?
SDGs ist die Abkürzung für Sustainable Development Goals. Es handelt sich um 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, die von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden.