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Den HSV erleben – Barrieren überwinden
Der Weg ins Volksparkstadion ist nicht für alle HSV-Fans leicht. Manchen fehlt das Geld, die Kraft oder auch einfach eine Begleitperson. An solche Supporter vergibt der HSV kostenlose Sozialtickets. Dank dieses Angebotes kommen auch wieder Menschen ins Stadion, die dem Erlebnis im Volkspark aufgrund verschiedener Herausforderungen schon Tschüs gesagt hatten. Ein Stadionbesuch.
Es ist angerichtet. Die Sonne scheint über Hamburg, die Spieler laufen auf den Platz, die Fans der Rothosen singen „Mein Hamburg lieb ich sehr“. Auch Ernst Käckmeister und Volker Behrens singen mit. Gemeinsam haben sie ihre Plätze auf der Rollstuhlrampe im A-Rang der Südtribüne gefunden, die zur UEFA EURO 2024 modernisiert worden ist. „Super Platz, bestes Wetter, Heimsieg“, sagt Ernst Käckmeister vor dem Spiel. Und außerdem gewinne der HSV immer, wenn er im Stadion sei, sagt der Mann im Elektrorollstuhl und lacht. „Das packen wir“, sagt Volker Behrens. Die zwei wirken wie alte Bekannte – dabei sind sie das erste Mal zusammen unterwegs, kostenlos im Stadion mit einem Sozialticket des HSV.
Rund 100 Sozialtickets vergibt der HSV bei jedem Heimspiel
Der Weg ins Stadion ist für manche Menschen eine Hürde. Einigen fehlt das Geld für ein Ticket, andere haben eine Behinderung und schaffen es nicht allein, wieder andere wollen nicht allein gehen, haben aber keine Freundinnen und Freunde oder Bekannte, die sie begleiten könnten. Auch für solche Fans ist der HSV da. Bei jedem Heimspiel besuchen durchschnittlich 100 HSVerinnen und HSVer aus der Metropolregion Hamburg mit den Sozialtickets das Volksparkstadion. Mit den kostenlosen Tickets verfolgen sie das Spiel aus Block 11C auf der Südtribüne. Und falls nötig, stellt der HSV Rollstuhlplätze, Plätze mit Audiodeskription oder Dolmetschung in Gebärdensprache zur Verfügung.
Interessierte HSV-Fans können sich auf der Website des Clubs für Sozialtickets bewerben. Gibt es mehr Nachfrage als Tickets, entscheidet das Los. Und wer in der Saison schon einmal Sozialtickets bekommen hat, wird in der laufenden Spielzeit nicht mehr berücksichtigt. Den größten Anteil an Tickets bekommen dabei Menschen, die von sozialen Organisationen betreut oder begleitet werden. Dabei werden unter anderem Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit, der Sozialarbeit, der Unterstützung für Geflüchtete oder der Gesundheitspflege berücksichtigt.
Beim Heimspiel des HSV gegen den SC Paderborn am siebten Spieltag war beispielsweise eine Gruppe aus einer Pflegeeinrichtung für Menschen mit kognitiven und demenziellen Einschränkungen zu Gast. Christiane Dietrich, Leitung der sozialen Betreuung und Fachkraft für Gesundheits- und Sozialdienstleistungen, begleitete die Besuchenden zum Heimspiel und ordnete die Bedeutung des Stadionbesuchs für sie ein: „Kurz- und langfristig gesehen ist ein solches Erlebnis sicherlich sowohl durch die Vorfreude als auch durch die Erlebnisschilderungen im Nachgang sehr nachhaltig. Ferner kommt das Gefühl des ‚Dazugehörens‘ in der Gemeinschaft auf. Das Angebot der Sozialtickets ist besonders wertvoll, da viele früher aus Kostengründen auf Stadionbesuche verzichtet haben.“
Am siebten Spieltag war eine Pflegeeinrichtung mit Sozialtickets zu Gast im Volksparkstadion.
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Sicherer Zugang zur Kultur – das ist der Hamburger Kulturschlüssel
Um auch Einzelpersonen das Stadionerlebnis im Volksparkstadion zu ermöglichen, geht ein fester Anteil der Sozialtickets an den Hamburger Kulturschlüssel – ein Angebot von Leben mit Behinderung Hamburg. Im Hamburger Kulturschlüssel finden sich Kulturgenießende und Kulturbegleitungen zusammen, um gemeinsam das Angebot, das Hamburg bietet, zu erleben. Menschen, die Sozialleistungen erhalten oder in Familien leben, die ebenjene empfangen, können zu Kulturgenießenden werden.
Einer von ihnen ist Ernst Käckmeister. Der hat den jungen Uwe Seeler noch im alten Volksparkstadion spielen sehen. Heute, mit über 90 Jahren, ist Käckmeister auf den Elektrorollstuhl angewiesen. „Die Fahrt zum Stadion ist schon ein Abenteuer“, sagt er. Das letzte Mal war ihm die Energie im Akku ausgegangen. Deswegen freut er sich, jetzt über den Hamburger Kulturschlüssel mit Begleitung in den Volkspark zu kommen.
Sein Begleiter passt gut ins HSV-Stadion, könnte man sagen – und damit gleichzeitig untertreiben. Volker Behrens war das erste Mal beim Uwe-Seeler-Abschiedsspiel im Volksparkstadion, bald darauf hatte er eine Dauerkarte. Bekannt wurde er durch ein ikonisches Foto, das ihn 1979 mit nacktem Oberkörper und seiner HSV-Fahne zeigt, unmittelbar nach dem Gewinn der vierten Meisterschaft der Rothosen. Seit der Maurer Behrens in Rente ist, engagiert er sich ehrenamtlich in der Organisation Leben mit Behinderung Hamburg. Daher kennt er Frank Nestler – und der wusste, dass er da einen passenden Begleiter für HSV-Genießerinnen und -Genießer gefunden hatte.
Frank Nestler hat den Hamburger Kulturschlüssel mit seiner Organisation Leben mit Behinderung in Hamburg schon 2009 ins Leben gerufen. Seitdem ist das Netzwerk gewachsen, neben dem HSV unterstützen rund 90 Hamburger Kulturinstitutionen die Initiative mit Tickets. Diese gehen an die sogenannten Kulturgenießenden. Das sind Menschen, die entlang verschiedener Vielfaltsdimensionen – wie Alter, Behinderung, sozioökonomischer Status oder ethnische Herkunft – in ihrer kulturellen Teilhabe eingeschränkt werden.
Das Besondere am Hamburger Kulturschlüssel ist die Kulturbegleitung. „Vielen Menschen nützt die Freikarte allein nichts, da sie sich nicht allein auf den Weg in das Theater oder zum Volksparkstadion machen können“, sagt Frank Nestler. Der Hamburger Kulturschlüssel hat mittlerweile ein System, mit dem er passende Begleitungen findet. Fünf Tage vor einer Veranstaltung wissen alle, ob sie Karten und eine Begleitung haben. „So können die Menschen planen und müssen nicht auf übrig gebliebene Plätze hoffen“, sagt Nestler.
Kulturbegleiter Behrens und Kulturgenießer Käckmeister auf dem Weg zu ihren Plätzen.
Foto: Matthias Scharf Fotografie
Ein echtes Zeichen für gesellschaftliche Teilhabe
Echte Teilhabe, glaubwürdig, verlässlich, planbar, darum geht es auch dem HSV. „Das Ziel der Vergabe von Sozialtickets ist es, ein klares Zeichen für gesellschaftliche Teilhabe und gegen soziale Ausgrenzung zu setzen“, sagt Cornelius Göbel, Direktor Fans, Kultur & Nachhaltigkeit beim HSV. Für einen Club wie den HSV sei es immer auch ein Spagat: wirtschaftliche Zwänge auf der einen Seite, die soziale Verantwortung auf der anderen Seite. Denn natürlich müsse der HSV mit Tickets Geld verdienen. „Unser Ziel ist es, dass wir ein gutes Stadionerlebnis für alle schaffen können“, sagt Fanny Boyn, Fanbeauftragte beim HSV mit dem Schwerpunkt Inklusion & Diversität. Boyn merkt, dass durch das Angebot die Themen Alter und Einsamkeit wieder stärker in den Blick kommen: „Wir können Menschen erreichen, die vielleicht jahrelang selbstbestimmt ins Stadion gekommen sind und es jetzt nicht mehr können – weil ihnen das Geld fehlt, sie eine Behinderung haben oder sie sich nach Schicksalsschlägen den Besuch allein nicht mehr zutrauen.“
Die Nachfrage nach Tickets für HSV-Heimspiele wird weiter steigen. „Wir setzen unseren Weg mit den Sozialtickets fort, unabhängig von der Liga, unabhängig vom Gastverein – das ist für uns auch eine Frage der Glaubwürdigkeit und der Wertschätzung“, sagt Cornelius Göbel.
Beim Hamburger Kulturschlüssel sind die HSV-Tickets besonders begehrt. Frank Nestler erzählt, dass so auch Menschen über den Fußball ins Netzwerk kommen und mit ihren Begleitenden andere Kulturbereiche kennenlernen. „Wir bauen Brücken, es entstehen Freundschaften“, sagt Nestler. Wichtig ist ihm die Teilhabe, das Einbringen von allen. So gebe es einige, die erst als Kulturgenießende das Angebot nutzen, dann aber merken, dass sie auch als Begleitende anderen helfen können. „Die Leute, die zu uns kommen, wollen nicht bemitleidet werden, sie wollen mitmachen“, sagt Nestler.
Nach dem Spiel begleitet Volker Behrens seinen neuen Bekannten Käckmeister noch mit der Bahn nach Hause. Dass der HSV das Spiel verloren hat, ist schnell wieder vergessen. Das letzte Heimspiel der Saison wollten sie jedenfalls wieder zusammen schauen. Und den Aufstieg feiern.
SDGs?
SDGs ist die Abkürzung für Sustainable Development Goals. Es handelt sich um 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, die von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden.