Die vier Leben des Herbert Rubinstein
Fotos: Witters
Der Holocaust-Überlebende Herbert Rubinstein berichtet eindrucksvoll von seiner Kindheit, seinem Überleben und seinem Neuanfang in Deutschland. Ein bewegender Abend im Abaton-Kino.
Am 27. Januar 1945 wurden die Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau befreit. Seit 1996 ist dieser Tag in Deutschland als gesetzlicher Gedenktag verankert. Erinnert wird an die Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und Europa ausgegrenzt, verfolgt, gequält und ermordet wurden. Seit 2005 gedenken unter dem Motto „!Nie wieder“ offiziell auch die Fußballclubs der Bundesliga und der 2. Bundesliga rund um dieses Datum der Geschehnisse von damals – 2025 zum insgesamt 21. Mal, diesmal mit besonderem Fokus auf die Überlebenden des Holocausts und ihre Geschichten und Botschaften.
Der Spielkalender der Deutschen Fußball Liga hat für den HSV an diesem besonderen Termin ein Auswärtsspiel in Berlin vorgesehen. Die gastgebende Hertha erinnert in den Vereinsmedien an ihr hundertjähriges Mitglied Walter Frankenstein, vor dem Anpfiff sind auf den Videowänden und Tribünen des Olympiastadions Clips und Banner mit dem „!Nie wieder“-Slogan zu sehen. Rund 71.500 Zuschauerinnen und Zuschauer, darunter schätzungsweise 20.000 HSV-Fans, erleben anschließend unter Flutlicht einen dramatischen 3:2-Sieg des HSV.
HSV-Heimspiel im Abaton-Kino
Unabhängig vom Spielplan veranstaltet der HSV am 29. Januar 2025 auf Initiative des Netzwerks Erinnerungsarbeit (Netz E), des HSV Supporters Clubs, des HSV-Fanprojekts und in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Organisation what matters und der Stiftung Bornplatzsynagoge sein eigenes „Erinnerungsheimspiel“. Der Begriff ist durchaus passend, ist der Veranstaltungsort, das Abaton-Kino im Grindelviertel, doch gerade einmal zwei kräftige Torwartabschläge entfernt vom einstigen Zentrum des jüdischen Lebens in Hamburg: der 1938 in der Reichspogromnacht verwüsteten und 1939 abgerissenen Synagoge am Bornplatz.
Die Abendveranstaltung im Lichtspielhaus hätte ein ebenso zahlreiches Publikum verdient gehabt wie das Fußballspiel vier Tage zuvor. Mindestens. Die rund 350 Menschen im bis auf den letzten Platz gefüllten großen Saal erleben einen bewegenden, im Wortsinn denkwürdigen Abend. Sie lauschen der Lebensgeschichte Herbert Rubinsteins. Moderiert von Julian Rieck (what matters) erzählt der fast 89-Jährige über „Meine vier Leben“. Unter diesem Titel erschien 2022 seine Autobiografie. Er erzählt seine Geschichte, damit nichts vergessen wird. Er erzählt sie mit der ihm eigenen großherzigen Menschenliebe. Liebe ist sein roter Faden, die lebendige Erinnerung an all diejenigen, die nicht mehr sind, deren Leben endeten, bevor sie ihre Stimme erheben konnten, als deren Stellvertreter er sich sieht.
Leben 1: Czernowitz
Herbert Rubinstein, geboren am 26. Februar 1936, erzählt von seiner Geburtsstadt Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina im damaligen Königreich Rumänien (heute: Westukraine), einem 80.000 Menschen zählenden multikulturellen Ort, der zweifelsohne als eine Art „Utopie für ein vereintes Europa“ bezeichnet werden kann. Er erzählt von unbeschwerten Momenten, seinem Aufwachsen in einem gutbürgerlichen, traditionellen, jüdischen Elternhaus. Er spricht über seine Familie – die Mutter Berta, den Vater Max – und über den immer aggressiver werdenden Antisemitismus, über den Verlust der Existenzgrundlage und die Zwangsrekrutierung des Vaters durch die Rote Armee. Er sieht ihn das letzte Mal, als er vier Jahre alt ist. Der Vater kehrt nicht mehr heim, wird von deutschen Soldaten erschossen.
Rubinstein erzählt vom 1941 eingerichteten Czernowitzer Ghetto, vom Hunger und vom dort herrschenden „furchtbaren Gestank“, der sich unauslöschlich in Nase und Gedächtnis eingebrannt hat: „Es verfolgt mich noch so, dass ich bis heute Probleme habe, auf Toiletten zu gehen, wo ein schlechter Geruch ist. Das erinnert mich sofort an meine Kindheit.“ Er erzählt von den Zügen, die in die Konzentrationslager fuhren, vom Mut seiner Mutter, von falschen Papieren und einem Zufall, die seine Deportation verhinderten. Er erzählt von Max Rubin, seinem späteren Stiefvater, der 1945 aus Auschwitz befreit wird, nach Czernowitz kommt und ihn und seine Mutter nach Amsterdam mitnimmt, den Ort, an dem sein zweites Leben beginnt.
Leben 2: Amsterdam
Herbert Rubinstein ist zehn Jahre alt, kaum in der Schule gewesen und muss erst mal in den Kindergarten. Nach drei Monaten spricht er fließend Holländisch. Dann kommt er in die Grundschule. „Ich sage heute: Ich bin ein Rumänisch-holländisch-Deutscher, der sich als Europäer versteht, als Weltbürger, aber in erster Linie als Mensch. Solange ich lebe, hoffe ich, dass ich Mensch sein kann – und gehört werde, wie jetzt von euch.“
Holocaust-Überlebender Herbert Rubinstein im Gespräch.
Leben 3: Düsseldorf
Ende 1956, Rubinstein ist 20 Jahre alt, verlässt er Amsterdam und zieht nach Düsseldorf, wo er sich eine wirtschaftliche Existenz aufbaut und zusammen mit seiner Mutter und seinem „zweiten Vater“ eine Damengürtelfabrik gründet. Nach Deutschland, ins „Land der Täter“ – durchaus mit Zweifeln: „Wo gehe ich hin, kann ich das mit meinem Gewissen überhaupt vereinbaren? In Holland gab es einen großen Hass auf die Deutschen; meine Freunde haben mich nicht verstanden: ,Wie kriegst du das Ganze unter einen Hut?‘ – ,Hass zerstört!‘, habe ich mir gesagt. Ich kann die Menschen nicht hassen. Mir persönlich haben sie nichts getan.“
Seit 1973 ist Herbert Rubinstein Mitglied der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, er übernimmt verschiedene Funktionen im Gemeinderat, im Vorstand und in Ausschüssen. Er engagiert sich beim Aufbau des jüdischen Schulwesens in Nordrhein-Westfalen, unter anderem bei der Gründung der Yitzhak-Rabin-Grundschule (1993) und des Albert-Einstein-Gymnasiums (2016). Von 1996 bis 2008 ist Rubinstein hauptamtlicher Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein. In dieser Zeit wirkt er an der Ausarbeitung des Staatsvertrags zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und den jüdischen Gemeinden mit und organisiert Kulturtage sowie Bildungsprojekte.
Seit Jahrzehnten tritt er als Zeitzeuge in Schulen und bei Synagogen- und Friedhofsführungen auf. Für seine Verdienste um das jüdische Leben und den interkulturellen Dialog erhält er am 1. Juni 2021 das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland.
Leben 4: Hinwendung zu den Wurzeln in Czernowitz
Viele junge Czernowitzerinnen und Czernowitzer besuchen Düsseldorf, das Albert-Einstein-Gymnasium, gehen in die Mahn- und Gedenkstätten, und Herbert Rubinstein ist immer häufiger dabei. Er bekommt einen Bezug zum „jungen“ Czernowitz und denkt sich: „Vielleicht kann ich behilflich sein.“ Als er seine Geburtsstadt, über 70 Jahre, nachdem er sie verlassen musste, wieder besucht, erkennt er vieles, was ihn an seine Vorfahren erinnert, wieder: „Diese Wurzeln fingen an, sich zu melden.“ Rubinstein hat sie gehört und erzählt von ihnen. Er lebt sie.
Im März 2022 beschließt der Rat der Stadt Düsseldorf, seiner neuen Heimat, aus Anlass des Ukraine-Krieges eine Städtepartnerschaft mit der ukrainischen Stadt Czernowitz, seiner alten Heimat – nicht zuletzt aufgrund der zuvor gepflegten Kontakte zwischen den jüdischen Gemeinden beider Städte. Für Rubinstein schließt sich endgültig ein Kreis. Ein Gedanke lässt ihn dabei nicht los: „Ich musste immer daran denken, dass wir alle Flüchtlinge gewesen sind. Auch jetzt müssen Menschen wieder flüchten. Es ist so unnötig und barbarisch, was an vielen Stellen auf der Erde geschieht, besonders in der Ukraine.“
„!Nie wieder“ lautet das treffende Motto der Initiative Erinnerungstag im deutschen Fußball. Und: „Immer wieder, und sooft und solange es noch möglich ist!“, möchte man in Bezug auf die Berichte der Zeitzeugen von damals hinzufügen. Das hat der ergreifende Abend mit Herbert Rubinstein im Abaton-Kino eindrucksvoll deutlich gemacht.
Bornplatzsynagoge
Das 1906 eingeweihte Gotteshaus war eine der größten Synagogen in Deutschland. Das Gebäude wurde in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 verwüstet, kurz darauf in Brand gesteckt, die Ruine 1939 abgerissen. Fünfzig Jahre nach der Zerstörung wurde der ehemalige Standort umgestaltet, seit dem 9. November 1988 weist das Bodenmosaik „Synagogenmonument“ auf die einstige Lage und Ausmaße hin. Seit 2019 setzen sich die Jüdische Gemeinde, der Zentralrat der Juden in Deutschland und mehrere Organisationen für den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge ein. Im Februar 2020 wurde ein Antrag für eine Machbarkeitsstudie von der Hamburgischen Bürgerschaft einstimmig angenommen, im November 2020 gab der Haushaltsausschuss des Bundestags 65 Millionen Euro für die Wiederherstellung der Synagoge frei, im September 2025 schließlich wählte eine Jury aus 25 Entwürfen renommierter nationaler und internationaler Architekturbüros ihren favorisierten Entwurf für einen Neubau aus.
SDGs?
SDGs ist die Abkürzung für Sustainable Development Goals. Es handelt sich um 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, die von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden.