Nachwuchsarbeit mit Köpfchen
„High Challenge – High Support“: Unter diesem Motto lernen Talente im HSV-Nachwuchsleistungszentrum für den Rasen und das Leben. Der Sportpsychologe Frank Weiland begleitet sie auf diesem Weg und zeigt, wie wichtig psychologisches Training für die Leistung ist.
Fotos: Witters
Die Zukunft sitzt am Tisch nebenan. Das gilt für alle hier. Denn Profis wie Keeper Daniel Heuer Fernandes essen in der Mensa in der Alexander-Otto-Akademie neben den Nachwuchskickern, von denen es alle zukünftig einmal ins nahe Volksparkstadion schaffen wollen. Die jungen Kicker sehen am Nachbartisch ihre Vorbilder, die es schon geschafft haben: Sie sehen ihre mögliche Zukunft.
In der Akademie herrscht ein forderndes und gleichzeitig förderndes Umfeld für die ausschließlich männlichen Nachwuchsspieler. Die Mädchenmannschaften trainieren wie die HSV-Frauen in Norderstedt. Im Rahmen der Nachwuchsarbeit neben dem Volksparkstadion werden die Jungs dabei begleitet, sich in einem mindestens deutschlandweiten Wettbewerb durchzusetzen. Der Konkurrenzdruck ist hoch. Nach dem Schultag kommen die Nachwuchskicker im NLZ an und investieren weitere intensive Stunden in ihren Traum vom Profikicker. Um sich dieser großen Challenge jeden Tag aufs Neue zu stellen, arbeiten diverse Spezialistinnen und Spezialisten im Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) des HSV. Das gemeinsame Motto lautet: „High Challenge – High Support“.
Einer, der beim Weg in die Zukunft hilft, ist Frank Weiland. Wer mit dem Teamleiter Persönlichkeits- & Leistungsentwicklung im NLZ durch den markanten Bau in HSV-Farben geht, dem strecken sich viele Hände entgegen. „Handshake-Mentalität“, sagt Weiland. Er führt durch die Einrichtung neben dem Volksparkstadion, zeigt die Lernräume, die Mensa mit der freundlichen Holzoptik, die offenen Plätze im ersten Stock mit Blick auf das Trainingsgelände, an denen gerade ein Spielanalyst mit einem Nachwuchsspieler spricht. Die Architektur ist offen, die Haltung ist es auch. Einander sehen, begrüßen, den anderen wahrnehmen – das lebt das gesamte Team hier vor.
Die Alexander-Otto-Akademie und die umliegenden Plätze sind das Zuhause für die U16- bis U21-Mannschaften des HSV.
Fokus und Alternativen – die Arbeit im NLZ ist ein Spagat
Es ist eine weite Reise, der Weg in den Profifußball. Rund 90 Jugendliche werden sportpsychologisch aus den vier Nachwuchsmannschaften von der U16 bis zur U21 betreut. Die meisten wohnen noch bei ihren Eltern und pendeln fast täglich zum Training, 16 Internatsplätze gibt es. Doch selbst aus dem elitären Kreis der Spieler des NLZ schaffen es aus jedem Jahrgang nur wenige dauerhaft in eine Profiliga. „Der HSV hat auch eine ethische Verantwortung. Manche der Jungs haben praktisch nur eine Identität, wenn sie hier ankommen: Profi“, sagt Weiland. An diesem Traum soll durch die psychologische Unterstützung auch nicht gerüttelt werden – aber zusätzlich werden die Jungs dabei unterstützt, bei Bedarf auch ohne Profikarriere gut durchs Leben zu kommen. „Wir wollen helfen, Kompetenzen zu entwickeln. Es wäre schön, wenn sie mit 18, 19 sagen können: Ich kann drei, vier verschiedene Gerichte kochen. Ich komme mit meinen Finanzen klar. Und wenn ich einen Führerschein machen will, dann kriege ich das organisiert“, sagt Weiland. Beim Wachstum helfen alle mit. Weiland erzählt von einem der Köche, der einigen Jungs das Kochen von Gerichten beibringt, die sie sich nach dem Training zu Hause zubereiten können.
Die Doppelaufgabe: mentale Gesundheit und Leistungssteigerung
Seit 2017 arbeitet Weiland im NLZ und begleitet dort junge Fußballer beim Wachsen – sportlich und persönlich. Denn: Die mentale Gesundheit ist wichtig. Nach dem Suizid von Robert Enke ist in der Sportpsychologie dieser Bereich stark fokussiert worden. Im NLZ des HSV wird aber nicht nur Wert darauf gelegt, auf Krisen oder Verletzungen zu reagieren, sondern auch darauf, frühzeitig Strukturen zu schaffen, die mentale Stärke fördern.
Weiland sieht noch Potenzial, die Rolle der Psychologie in der Leistungsentwicklung weiter zu stärken. Das sportpsychologische Training kann die NLZ-Kicker zu besseren Fußballern machen. Hierfür gibt es viele verschiedene Methoden. Mit manchen Spielern arbeitet der Teamleiter Persönlichkeits- & Leistungsentwicklung daran, dass diese im Spiel positiv mit sich selbst sprechen und auch nach Rückschlägen weitermachen. Manchmal erarbeitet er mit einem Spieler konkrete Pläne, etwa, dass dieser ganz bewusst Torabschlüsse mit dem ersten Kontakt sucht. „Das kann der Spieler natürlich – ich will ihm helfen, dass er es auch umsetzt“, sagt Weiland.
Neben der Arbeit mit Einzelspielern und der Begleitung von Trainerinnen und Trainern durch die unterschiedlichen Phasen einer Saison gibt es auch immer wieder Impulsworkshops, die entweder altersspezifisch, regelmäßig oder nach akutem Bedarf gesetzt werden. Zudem arbeitet der Sportpsychologe mit den Trainerteams an der Entwicklung der Mannschaftskultur. Hierfür stehen ebenfalls Workshops und Events mit anderen Abteilungen des HSV auf dem Programm. So übernachtete eine Mannschaft im Volksparkstadion, ein anderes Team half bei einer Fanchoreografie mit. Auf diese Weise soll nicht nur die Identifikation mit dem HSV gestärkt werden. Spieler und Trainer erhalten auch einen Einblick in die Bereiche des Profifußballs neben dem Platz.
Die Beobachtung von Trainingseinheiten gehört zu der sportpsychologischen Arbeit dazu.
Der Sportpsychologe steht in ständigem Austausch mit den Trainerteams, den Individualtrainern, den Analysten, dem medizinischen Team und den anderen Spezialistinnen und Spezialisten im NLZ. Aber auch die Kommunikation mit den Eltern liegt in dem Aufgabenbereich. Dafür trifft sich Weiland regelmäßig mit Repräsentantinnen und Repräsentanten der Elternschaft, einer Gruppe, die sich Eltern-Supporter nennt. Das dabei gesammelte Feedback spiegelt er an die Trainerteams und anderen Mitarbeitenden.
Ein weiterer Teil der sportpsychologischen Arbeit ist die Beobachtung von Trainingseinheiten. Weiland sieht, wenn ein Kicker viele Sicherheitspässe spielt. Wo Trainer mangelnden Offensivgeist ausmachen, fragt er sich: „Woher kommt der Wunsch nach Sicherheit – und wie kriegen wir diese wieder in den Spieler?“ Beide Sichtweisen sollten einen Platz haben – zusammen können sie die Spieler stärken. Die Vielfalt der Ansichten macht die gemeinsame Arbeit des Teams im NLZ kraftvoll und hilft den Jugendlichen in ihrer ganzheitlichen Entwicklung.
Was wichtig zu berücksichtigen ist: Der Kopf sei kein Muskel, der Geist könne nicht wie im Fitnessstudio gestählt werden. „Wir dürfen nicht den Eindruck erzeugen, dass man mental perfekt sein kann und muss, als sei alles nur eine Frage des Willens“, erläutert Weiland. Daher wird auch nicht mit allen nach dem gleichen Handbuch gearbeitet – denn jeder bringt sein eigenes System, seine eigene Geschichte mit. Und mit Zwang geht sowieso nichts, berichtet Weiland. Manchmal werden bei der sportpsychologischen Arbeit auch Grenzen erreicht: Hier braucht es Geduld und Vertrauen.
Verletzungen können dazugehören – und müssen begleitet werden
Als Sportler machte Weiland selbst früh Erfahrung mit Verletzungen. „Mich hat diese Frustration, dass der Körper nicht mitspielt, schon getroffen“, sagt er. Im Verein gab es damals niemanden, der diesen Frust aufgefangen hätte. So entwickelte er ein Interesse an der Psyche im Sport. „Die Spieler brauchen bei Verletzungen einen Ausblick, einen konkreten Reha-Plan“, sagt Weiland. Verletzungen können zu einer Fußballerlaufbahn dazugehören, das wird den Nachwuchsspielern vermittelt. Der Sportpsychologe spricht mit Betroffenen darüber, wofür so eine Verletzung auch gut sein kann. Ein positives „Reframing“ von einer erst einmal ausschließlich negativ konnotierten Situation. Junge Spieler können die zusätzliche Zeit nutzen, um durch gezieltes Training die Stabilität und die Kraft im Oberkörper zu stärken. Auch eine kurzzeitige Verschiebung des Fokus und damit die Möglichkeit, mehr Zeit mit Freundinnen und Freunden zu verbringen, kann ein Teil der Reha sein. Zeit für die anderen Identitäten abseits des Profifußballers, um anschließend wieder gestärkt an dem Traum von einer Profikarriere zu arbeiten.
SDGs?
SDGs ist die Abkürzung für Sustainable Development Goals. Es handelt sich um 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, die von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden.