HEIMATHAFEN

Inklusion im Volksparkstadion bedeutet längst mehr als Plätze für Menschen mit Rollstuhl. Fanny Boyn kümmert sich als Fanbeauftragte um ein gutes Stadionerlebnis für alle. Ein Rundgang durchs Volksparkstadion.

Die Stimmung bei Fanny Boyn, Fanbeauftragte des HSV, ist gut, obwohl der verpasste Aufstieg in die Bundesliga erst einige Tage vergangen ist. Denn sie und ihre Kolleginnen und Kollegen kommen kaum hinterher mit der Bearbeitung von Mitgliedsanträgen für den Verein und der Registrierung neuer Fanclubs. Immer im Blick der 46-Jährigen: Wie kann das Stadionerlebnis für alle beim HSV noch besser werden.

Fannys Tätigkeitsschwerpunkt ist die Inklusion. Sie hat lange in der Pflege gearbeitet, weiß, was Krankheiten und Behinderungen im Alltag bedeuten. Bei Inklusion denkt sie aber nicht nur an den Begriff Behinderung. Ihre Definition: „Wir wollen den Zugang für alle schaffen, unabhängig von Herkunft, sexueller Orientierung, Behinderung, Geschlecht und geschlechtlicher Identität, Einkommen, Glaube und/oder Alter. Diese Ganzheitlichkeit ist wichtig, weil das Thema Behinderung so aus der Isolation geholt wird. Niemand ist nur Mann, Frau, Migrantin oder Migrant, behindert. Wir stellen uns die Frage, wie sich unsere Mehrheitsgesellschaft verändern muss, um alle Barrieren abzubauen. Wir möchten, dass alle Besuchenden mit einem wunderbaren Erlebnis nach Hause gehen und ihre Bedürfnisse wahrgenommen werden.“

„Mein Ansatz ist Offenheit“

Ein Fußballspiel in einem Stadion mit 57.000 Plätzen ist ein Gemeinschaftserlebnis. Fußballfans mögen manchmal aussehen wie eine homogene Menge. Aber: Jeder Mensch ist anders, jeder Mensch hat andere Erwartungen. Wie schafft man also ein gutes Erlebnis für alle? „Mein Ansatz ist Offenheit“, sagt Fanny Boyn. Sie spreche mit vielen Menschen, versuche, ihre Bedürfnisse zu verstehen und im besten Fall mit ihnen zusammen Angebote zu schaffen, die ihren Besuch im Volksparkstadion schöner machen. Regelmäßig findet ein gemeinsamer Austausch statt, der sogenannte „Rautenschnack“. Hierbei werden die unterschiedlichen Bedarfe und Wünsche identifiziert und mögliche Lösungsansätze erarbeitet.

Rautenschnack

Mit dem „Rautenschnack“ hat der HSV im Mai 2023 ein neues Fandialogformat eingeführt, in dem einmal pro Quartal Themen rund um die Inklusion beim HSV besprochen und anschließend umgesetzt werden.

Erster Stopp auf dem Rundgang. Derzeit gibt es 96 Plätze für Rollstuhlfahrende im Süden des Volksparkstadions. Hier ist die bauliche Barrierefreiheit ein messbares Ziel: Zur UEFA EURO 2024 wird die Anzahl der Plätze auf 130 erhöht und zusätzlich die Sichtachse verbessert. Bei nicht-sichtbaren Behinderungen wie Autismus oder Epilepsie ist Unterstützung oft schwieriger, da muss man ins Gespräch kommen. In England gibt es die Sonnenblume auf der Kleidung als Zeichen für solche Behinderungen. „Das finde ich furchtbar“, sagt Fanny. Nicht jeder Mensch möchte schließlich, dass alle von dieser nicht-sichtbaren Behinderung erfahren. „Sie wollen ernst genommen werden, wollen Unterstützung, Support. Das ist unsere Aufgabe“, sagt die Fanbeauftragte. Oft kommen Anfragen: Könnt ihr nicht dieses für Menschen mit Autismus machen oder jenes für Ältere. Ihre Erfahrung nach acht Jahren in diesem Feld: Macht man Angebote, trauen sich auch andere Menschen, nach Unterstützung zu fragen.

Damit HSV-Fans mit Behinderungen Heimspiele besuchen können, hat der HSV barrierefreie Eingänge und Bereiche im Stadion geschaffen.

Fotos: Lucas Wahl

Eine Möglichkeit zum Durchatmen

Beim Rundgang durchs Volksparkstadion bleibt Fanny hinter Block 22/23A stehen. Für manche Menschen kann ein Stadionbesuch massiv überfordernd sein. Nun kann man schlecht die Nordtribüne um Ruhe bitten nach einem HSV-Treffer. Der Club hat 2020 mit dem Ankerplatz eine Anlauf- und Schutzstelle für Hilfe- und Ratsuchende geschaffen, die am Spieltag Diskriminierung und/oder Gewalt (mit)erlebt haben. Doch der Ankerplatz stellt darüber hinaus auch eine Anlaufstelle für Menschen mit nicht-sichtbaren Behinderungen dar. In dieser geschützten Räumlichkeit können überreizte Personen zur Ruhe kommen und durchatmen. Fanny erzählt hier, wie gut es oft auch Kindern tut, einfach mal kurz raus zu sein aus dem Trubel.

Für Menschen mit Autismus oder Epilepsie reicht so etwas häufig nicht, für viele ist ein Stadionbesuch am Spieltag nicht möglich. Abseits der Spieltage gibt es an ausgewählten Tagen die „Stille Stunde“. Dabei bietet der HSV Stadionbesuche für Menschen etwa mit Autismus oder Angststörungen an. An einem solchen Tag ist das Licht gedimmt, die Musik leiser, es gibt keine Kindergeburtstage im Volksparkstadion.

Leitsystem und Plätze für Fans mit Sehbehinderung

Fanny geht entlang des 2019 am Eingang Nord/Ost installierten taktilen Wegeleitsystems, mit dem sich Menschen mit Sehbehinderung orientieren. In Block 3C blickt sie auf die rund dreißig Plätze mit audiodeskriptiver Reportage. Zwei Blinden- und Sehbehindertenreporter beschreiben hier direkt neben den Fans das Spiel. Zur UEFA EURO 2024 soll die Technik so weit sein, dass man diese besondere Reportage überall im Volksparkstadion empfangen kann. Was Fanny besonders wichtig ist: Alle Besuchenden dürfen den Anspruch auf ein gutes Erlebnis haben. „Es gibt hier Fans mit Sehbehinderung, die tippen dem Reporter aber mit richtig Nachdruck auf die Schulter, wenn dieser mal eine zu lange Redepause macht“, sagt sie und lacht.

Wir möchten, dass alle Besuchenden mit einem wunderbaren Erlebnis nach Hause gehen und ihre Bedürfnisse wahrgenommen werden.

Fanny Boyn

Viel getan bei der Inklusion

Bei ihrem Start 2015 hatte Fanny Boyn noch den Titel Behindertenbeauftragte. Es hat sich beachtlich viel getan – nicht nur beim Titel und in der Tätigkeitsbeschreibung. „Wir gehen erst einmal davon aus, dass alle Gäste hier bei uns im Volksparkstadion eine Behinderung haben“, sagt Fanny. Wenn man dieses Mindset im Club, bei den Ordnerinnen und Ordnern, bei den Fans lebe, dann könne man viel erreichen, ist die Fanbeauftragte sicher. Der HSV bietet viele Schulungen rund um die Inklusion an, speziell Ordnerinnen und Ordner werden für diese Themen sensibilisiert. Da sei immer noch Verbesserung möglich.

Das gelte für den gesamten Club – und auch für die Fans. Es habe sich schon viel getan, aber: „Wir müssen weiter zeigen, was wir vorleben wollen, und für diese Ziele werben“, sagt Fanny. Ein Beispiel nennt die Fanbeauftragte: Es gibt jetzt einen Rollatorenstellplatz im Volksparkstadion mit einer Metallstange, an der die Gehhilfen angeschlossen werden können. Meist stehen dort nur wenige Rollatoren, der Raum wirkt also fast leer. An einem Spieltag hatte jemand eine große Mülltonne dort geparkt. Platz war genug – aber das Team der Fanbeauftragten hat die Tonne sofort entfernen lassen. Es geht ihr darum, den Respekt beim HSV selbst und gegenüber den Gästen bestmöglich zu zeigen.

Früher war es selbstverständlich, dass die Menschen mit Behinderung unter sich blieben. Aber nicht jeder Fan möchte eben in einen Rollstuhlfanclub, nur weil sie oder er in einem Rollstuhl sitzt. Fanny erzählt von Marcel und André Fricke – Riesenfans und Allesfahrer. Sie haben sich ganz bewusst einem Fanclub angeschlossen, in dem die Behinderung nicht im Vordergrund steht. „Die bekommen da wunderbaren Support. Da müssen wir hin, das ist echte Inklusion“, sagt sie.

Leitsysteme innerhalb des Stadions und Handläufe mit Brailleschrift, besser bekannt als Blindenschrift, erleichtern Menschen mit Sehbehinderung die Orientierung.

Stimmung mit Gebärden übersetzen

Station in Block 12C. Fanny zeigt auf die Plätze, auf denen der HSV Gebärdensprachdolmetschung anbietet. Ehrenamtliche sitzen hier an Spieltagen in der ersten Reihe und zeigen mit ihren Gebärden, wie die Stimmung ist, welche Gesänge angestimmt werden oder erklären Durchsagen im Stadion. Wie auch auf den Hörplätzen im Block 3C sitzen hier immer auch Gästefans. „Auch das ist doch Inklusion“, sagt sie und lacht dabei, aber die Aussage meint sie durchaus ernst.

Bei Heimspielen sieht die Fanbeauftragte praktisch nichts vom Spielgeschehen. Aber sie erlebe das Spiel über die Stimmung, über den Austausch mit den Fans. Neulich ist sie mit ein paar Fans mit Sehbehinderung aus dem Volksparkstadion gegangen. Da sagte einer der Fans zu ihr: „Fanny, hast du das gesehen, das war doch nie ein Elfmeter!“ Sie hat ihn bestätigt, aber erst, nachdem sie „Tschüss“ gesagt hatten, hat sie gemerkt: „Moment, der hat das doch gar nicht gesehen – aber es hat sich so angefühlt, und das ist wunderbar. Das ist Inklusion.“

SDGs?

SDGs ist die Abkürzung für Sustainable Development Goals. Es handelt sich um 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, die von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden.

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