HEIMATHAFEN

Fotos: Felix Schlikis

Der HSV hat gemeinsam mit zwei anderen Teams ein inklusives Sportangebot für Menschen mit körperlichen Behinderungen geschaffen. Seit 2021 bietet der Verein Amputiertenfußball an. Ein Spieltagsbesuch.

Und dann geht alles ganz schnell. Auf seine Krücken gestützt, jagt Majed Sajid in beeindruckendem Tempo über die linke Außenbahn nach vorn. Der Spieler der SG Nord-Ost muss zwar einige Meter zu seinem Gegenspieler aufholen, aber in Sachen Schnelligkeit macht dem Hamburger keiner etwas vor. Allerdings stellt der Hoffenheimer Gegenspieler geschickt seinen Körper rein – und es knallt. Majed wird ausgehebelt und landet auf dem Rücken. Eine seiner Unterarmstützen ist zerbrochen. Willkommen in der Deutschen Amputierten-Fußball-Bundesliga (DAFL).

Die DAFL gibt es seit 2021. Spielberechtigt sind Männer und Frauen mit Amputationen oder Fehlbildungen der Gliedmaßen. Auf dem Feld sind alle auf zwei Krücken unterwegs. Wer das Tor hütet, benutzt nur einen Arm. Der zweite, so die Mitspielenden denn einen haben, wird in der Regel unter dem Trikot am Körper fixiert.

In dieser Saison nehmen zum ersten Mal vier Mannschaften an der Meisterschaft teil: Neben Anpfiff Hoffenheim, Fortuna Düsseldorf und der SG, die ein Zusammenschluss aus dem Hamburger SV, Tennis Borussia Berlin und den Sportfreunden Braunschweig ist, nun auch Mainz 05.

Anfang Juni trägt die Spielgemeinschaft aus Hamburg, Berlin und Braunschweig erstmals einen Doppelspieltag auf der HSV-eigenen Paul-Hauenschild-Sportanlage in Norderstedt aus. Majed ist einer der besten Spieler und gehört, obwohl er erst 16 Jahre alt ist, zu den fünf Stammspielern.

Man sieht schnell, warum das so ist: Beim Dribbling führt er den Ball ganz eng am Fuß, mal mit der Außenseite, mal mit der Innenseite. Oder er legt sich den Ball vor und rast am Gegenspieler vorbei. Oft ist er nur durch ein Foul zu stoppen. Er beschwert sich beim Schiedsrichter. Seine Mitspieler meckern über Majed, weil er eher hätte abspielen müssen. Ein ganz normales Fußballspiel eben. Oder gelebte Inklusion.

„Ich habe schon immer Fußball gespielt – bevor ich verletzt wurde, aber auch danach mit meinen Krücken“, erzählt der Realschüler aus Meckelfeld, der 2015 mit seiner Familie vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland flüchtete. Sein rechtes Bein musste amputiert werden, nachdem der damals Sechsjährige von einem Bombensplitter verletzt worden war.

Wie athletisch Amputiertenfußball ist, zeigt eindrucksvoll HSV-Kapitän Simon Dornblüth, der den Ball zum Mitspielenden flankt.

Begeisterter Zuschauer: Marcell Jansen, Präsident des Hamburger SV (r.).

Die Amputierten-Fußball-Bundesliga erfährt immer mehr Zuspruch bei den Zuschauenden.

In einer „normalen“ Mannschaft durfte er mit seinen Gehhilfen keine Punktspiele bestreiten. „In einem Team nur für Behinderte wollte ich aber nicht spielen. Ich finde mich ganz normal.“ Dass Majed dann zum Amputiertenfußball kam, hat er allerdings einem Zufall zu verdanken. Eine Mitarbeiterin des Schulbüros hatte ihn auf dem Pausenhof spielen sehen und dann den Kontakt hergestellt. Als der HSV 2021 das Inklusionsangebot ins Leben rief, war Majed sofort dabei: „Wenn ich jetzt mit meiner Mannschaft spiele, vergesse ich alles andere.“

Bei ihrem ersten echten Ligaheimspiel sind die fünf Hamburger im SG-Kader – neben Majed noch Kapitän Simon Dornblüth und Hamed Sagar sowie die Torhüter Hinrich Stender und Lucio Adalbert – besonders motiviert. Auf den anderen Fußballplätzen der Anlage findet zeitgleich das Turnier der HSV-Fanclubs, die Westkurven-Meisterschaft (WKM), statt. Allein schon die Tatsache, dass am Rande der WKM-Spiele vereinzelt Pyrotechnik gezündet wird, sorgt für eine besondere Atmosphäre bei den DAFL-Partien.

„Es wäre normalerweise schwierig, für so eine Veranstaltung Zuschauende nach Norderstedt zu bekommen“, erklärt Inken Pfeiffer, die beim Hamburger Sport-Verein e.V. als Koordinatorin Integration und Inklusion angestellt ist. Bei der WKM 2022 absolvierten die Amputiertenfußballer ein Einlagespiel. Weil das so gut ankam, folgte nun ein kompletter Spieltag, während auf den anderen Plätzen rund 640 Spielerinnen und Spieler um die Fanclubmeisterschaft kämpfen.

Und die Amputiertenfußballer wecken das Interesse der HSV-Fans. Immer wieder bleiben Leute am Kleinfeld stehen, auf dem es in zweimal zwanzig Minuten fünf gegen fünf hoch hergeht, und schauen begeistert zu. „Die spielen ja besser als wir“, sagt einer. „Digga, das ist echt nicht schlecht. Krass!“, ein anderer.

Wenn ich jetzt mit meiner Mannschaft spiele, vergesse ich alles andere.

Majed Sajid

Am ersten Spieltagwochenende war Majed mit sieben Treffern bester Torschütze. Beim Heimspieltag, den seine Familie erstmals live vor Ort verfolgt, glänzt er eher als Vorbereiter. Mit seinem linken Fuß bereitet er die 1:0-Führung gegen Düsseldorf vor. Gefühlvoll und punktgenau landet seine Flanke bei Routinier Marco Reinecke – und der trifft mit dem Kopf. Was eher selten ist, weil die Spieler mit ihren Krücken nicht gut springen können. Am Ende siegt die SG mit 3:1.

Amputiertenfußballer haben zuletzt immer wieder für ganz besondere Momente gesorgt. Der Düsseldorfer Setonji Ogunbiyi war mit einem Fernschuss 2022 für das Tor des Monats der „Sportschau“ nominiert. Der Pole Marcin Oleksy wurde sogar bei einer großen FIFA-Gala in Paris mit dem Ferenc-Puskás-Award für das schönste Tore des Jahres 2022 ausgezeichnet. Sein akrobatischer Treffer wurde im Netz millionenfach geklickt.

Der Sport nimmt eine nachhaltige Entwicklung

HSV-Präsident Marcell Jansen freut sich sehr, dass sein Club in Sachen Amputiertenfußball in Deutschland zu den Vorreitern gehört. „Der HSV zeigt, was er ist, nämlich ein sehr breit aufgestellter Verein. Und Amputiertenfußball ist eine geile Sportart, die mehr Aufmerksamkeit verdient hat“, betont der Ex-Profi, der auch beim ersten Heimspieltag mit dabei ist.

Mit den Rollstuhlbasketballern und -basketballerinnen der BG Baskets Hamburg hat der HSV schon lange ein großes und erfolgreiches Inklusionsprojekt im Angebot. Jetzt geht es vor allem darum, dass noch mehr Menschen erfahren, dass man mit einer Amputation in Hamburg auch Fußball spielen kann. Koordinatorin Inken Pfeiffer hofft darauf, dass der HSV über kurz oder lang ein eigenes Team stellen kann.

Und das Engagement des HSV wird längst wahrgenommen: Coach Friedrich-Wilhelm Stender erhielt vom Hamburger Fußball-Verband einen Preis für sein Ehrenamt. Der HSV wurde zudem 2022 mit dem Werner-Otto-Preis ausgezeichnet.

Lässt sich für das schönste Tor des Spieltages von den Fans feiern – Majed Sajid.

Seine Teamkameraden bejubeln einen Treffer im Spiel gegen Düsseldorf.

„Durch das Preisgeld können wir die Material- und auch die Reisekosten in der DAFL übernehmen“, sagt Inken. „Kein Spieler muss in Eigenleistung treten.“ Auch wenn allein in den ersten beiden Spielen vier Krücken kaputtgegangen sind, müssen sich die Spieler also keine Sorgen machen. Außerdem gab es für die SG Nord-Ost beim Start in der Liga einiges an Material.

Präsident Jansen ist nicht nur zum Zuschauen gekommen. Der zu diesem Zeitpunkt 37-Jährige soll – Ehre, wem Ehre gebührt – Majed für das schönste Tor des ersten Spieltags auszeichnen. Gemeinsam schauen sie sich den Treffer noch einmal auf dem aufgestellten Laptop an und Jansen überreicht Majed den Pokal.

Der Funktionär lobt im Anschluss: „Beim Amputiertenfußball gibt es wirklich tolle Leistungen – Tempo, Technik und Wucht. Mit der Bundesliga ist ein Anfang gemacht und die Entwicklung ist nachhaltig. Das ist eine runde Sache. Ich bin stolz auf den HSV und alle, die dazugehören.“

Und Majed lässt sich feiern. Unter großem Jubel läuft er, längst auf eine neue, heile Krücke gestützt und die Trophäe in der freien Hand, einmal quer über den Platz auf die Familie zu und lässt sich in die offenen Arme fallen. „Ich liebe den Fußball“, sagt der Teenager und strahlt.

HSV-Präsident Marcell Jansen (l.) gratuliert HSV-Spieler Majed Sajid zu seinem Traumtor.

SDGs?

SDGs ist die Abkürzung für Sustainable Development Goals. Es handelt sich um 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, die von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden.

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