HEIMATHAFEN

Der Ankerplatz ist eine Anlauf- und Schutzstelle für Betroffene diskriminierender und sexualisierter Gewalt bei Heimspielen im Volksparkstadion. Dr. André Fischer, Senior Associate Culture & Fan Engagement, über ein Leuchtturmprojekt des HSV.

André, wie ist der Ankerplatz entstanden?
2019 wurde auf Initiative der aktiven Fanszene, vom Netzwerk Erinnerungsarbeit, vom Netzwerk gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt sowie vom Bereich Fankultur ein Antidiskriminierungsparagraf in die Stadionordnung aufgenommen. Auf dieser Basis wurde zur Rückrunde der Saison 2019/20 der Ankerplatz im Volksparkstadion geschaffen. Die Konzeption erfolgte durch die Bereiche Fankultur und Nachhaltigkeit, die Umsetzung lag federführend im Bereich Fankultur in Kooperation mit dem Frauen Notruf Hamburg. Die Grundannahme ist, dass wir ein Dunkelfeld beim HSV haben, in dem es Verstöße gegen Paragraf 3 unserer Stadionordnung gibt.

Fotos: Lucas Wahl

Unser einziger Zugang ins Dunkelfeld sind die Betroffenen.

Dr. André Fischer

Der Antidiskriminierungsparagraf 3 verbietet „jegliche Formen von Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus, Antiziganismus sowie alle weiteren Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“. Was bedeutet das in der Praxis?

Wir nehmen an, dass in diesem Dunkelfeld jede Form der Diskriminierung existiert, verbal und körperlich. Diese Probleme haben wir allerdings nicht exklusiv. Vorfälle gibt es auf jeder Großveranstaltung, auch in Discos oder Bars. Wir wollen transparent damit umgehen, um das Flutlicht im Dunkelfeld anzumachen.

Die Coronapandemie mit Lockdown, Zulassungsbeschränkungen und Geisterspielen haben wir genutzt, um gemeinsam mit dem Frauen Notruf Hamburg das Konzept für den Ankerplatz weiterzuentwickeln und das gesamte Team fortzubilden. Die Saison 2022/23 war unsere erste komplette Saison mit Vollzulassung.

Frauen Notruf Hamburg

Der Frauen Notruf Hamburg ist eine spezialisierte Beratungsstelle zu sexualisierter Gewalt und hat Erfahrung mit Awareness-Konzepten bei Großveranstaltungen. Diesen Kooperationspartner hat der HSV bewusst ausgesucht, um größtmögliche regionale Kompetenz miteinzubeziehen.

Welche Signale sendet der Ankerplatz an Betroffene, welche an Täterinnen und Täter?

Unsere Arbeit hat zwei Ebenen: Einerseits bieten wir niedrigschwellig einen Schutz- und Beratungsraum. Dabei arbeiten wir zu 100 Prozent betroffenensolidarisch. Andererseits ist der Ankerplatz unsere einzige Chance, in dem Dunkelfeld Handlungsfähigkeit herzustellen – und zwar durch die Betroffenen selbst, die sich an uns wenden.

Wir wollen Täterinnen und Täter aus dem Stadion entfernen. Unser Wunsch ist, dass schon die Existenz des Ankerplatzes mitten im Geschehen Wirkung zeigt. Alle wissen: Wir sind da und schauen hin.

Wir identifizieren Täterinnen und Täter aber nur, wenn die Betroffenen es wollen. Oft werden verbale oder körperliche Übergriffe erst im Nachgang gemeldet. Dann ist es schwer, zu reagieren. Daher ist unser Appell: Kommt sofort! Dann können wir auf Wunsch eingreifen.

Der Ankerplatz befindet sich im Umlauf hinter Block 22/23A. Fans, die Hilfe und/oder Rat suchen, können sich ab Stadionöffnung bis eine Stunde nach Abpfiff vor Ort oder telefonisch unter 040 4155-2222 melden. Außerhalb der Spieltage ist die Kontaktaufnahme zusätzlich per E-Mail an ankerplatz@hsv.de möglich.

Was habt ihr bisher mit dem Ankerplatz erreicht?

Wir dokumentieren anonymisiert, was passiert, werten die Daten aus und evaluieren unsere Arbeit. Dabei stehen Datenschutz und Betroffenenschutz im Fokus. Noch fehlt allerdings ein aussagekräftiger Beobachtungszeitraum.

Einen kleinen Vergleich haben wir zwischen der coronabeschränkten Spielzeit 2021/22 und 2022/23. Da sehen wir eine erhebliche Zunahme von Meldungen (2021/22 (coronabeschränkt): ⌀ 1,4 gemeldete Fälle pro Spiel | 2022/23: ⌀ 2,3 gemeldete Fälle pro Spiel).

Wir gehen davon aus, dass die Anzahl der Übergriffe konstant ist, aber durch die zunehmende Bekanntheit des Ankerplatzes prozentual mehr Vorfälle gemeldet werden. Lediglich der Faktor zur Bestimmung der tatsächlichen Fälle ist bislang schwer einzuschätzen.

Kriegt ihr Gegenwind?

Kritische Stimmen gibt es überhaupt nicht. Das zeigt, dass das Engagement für Vielfalt und gegen Diskriminierung zum HSV gehört. Es ist nicht nur mehrheitsfähig, sondern dominant.

Wie habt ihr den Ankerplatz bekannt gemacht?

Bei jedem Heimspiel gibt es Bandenwerbung, vor jedem Spiel läuft unser Imagefilm. Wir nutzen Social-Media-Kanäle und verteilen Flyer. Zudem haben wir Plakate in den WCs des Volksparkstadions aufgehängt.

Wir arbeiten eng mit dem HSV Supporters Club zusammen und begleiten zum Beispiel Sonderzüge zu Auswärtsspielen mit einem gemischtgeschlechtlichen Team, einer Frau und einem Mann. Da haben wir ein Ankerplatz-Ruheabteil.

Bieten andere Clubs ähnliche Schutzräume?

Der HSV ist einer der Vorreiter. Es gibt aber Bewegung, in anderen Stadien entstehen ähnliche Initiativen. Unser Wunsch ist, dass alle Proficlubs Awareness-Strukturen aufbauen. Wir waren der erste Verein, der mit einem institutionalisierten Ansatz gegen diskriminierende und sexualisierte Gewalt an den Start gegangen ist und somit Schutz durch professionelle Teams im Rahmen einer Anlauf- und Schutzstelle im Stadion bieten konnte.

Wer erwartet mich am Ankerplatz?

Wir haben insgesamt acht ausgebildete Ansprechpersonen. Zu jedem Spiel sind zwei bis drei Personen vor Ort. Alle haben eine Hochschulausbildung – psychologisch, pädagogisch oder kriminologisch. Und sie haben unsere Fortbildung absolviert.

Wer kommt, sieht sofort: Hier bist du willkommen, wirst hineingebeten und kannst reden. Es gibt Sicht- und Schallschutz, sodass wir Anonymität sicherstellen können. Wenn über unsere Erstberatung und Versorgung hinaus mehr notwendig ist, stellen wir Kontakt zu weiteren Hamburger Hilfeeinrichtungen her.

Der Ankerplatz ist auch Anlaufstelle für Menschen mit nicht-sichtbarer Behinderung. Was bedeutet das?

Ein Stadionbesuch, der zumeist mit vielen Reizen einhergeht, kann dazu führen, dass gerade Menschen mit nicht-sichtbaren Behinderungen wie Autismus oder Epilepsie ad hoc eine ruhigere Umgebung benötigen. Wer Hilfe braucht, kann zu uns kommen. Wir stehen in engem Kontakt zu unserer Fanbeauftragten mit Schwerpunkt Inklusion, Fanny Boyn, die wir bei Bedarf dazuholen.

Was sind die nächsten Pläne für den Ankerplatz?

Jede Besucherin und jeder Besucher des Volksparkstadions soll wissen, dass es den Ankerplatz gibt. Wir wollen erreichen, dass Betroffene sich direkt statt erst im Nachhinein an uns wenden. Ich kenne Zeiten beim HSV, als sich niemand um diese Themen gekümmert hat, und bin stolz auf das, was wir seitdem erreicht haben.

Unsere Arbeit hat gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Denn der HSV ist nicht nur ein Ort, wo Fußball gespielt wird. Er beschäftigt seine Anhängerinnen und Anhänger jeden Tag und kann als Identifikationsfigur gesellschaftlicher Treiber sein. Es ist unsere Verantwortung, Werte und Haltung zu vermitteln.

Dr. André Fischer leitete sechs Jahre lang das HSV-Fanprojekt; seit 2019 arbeitet er im Bereich Fankultur. Der 47-Jährige hat eine klassische HSV-Fan-Biografie. Sein Vater hat ihn früh mitgenommen ins Volksparkstadion. Er begleitet die Rothosen seit den Achtzigerjahren.

SDGs?

SDGs ist die Abkürzung für Sustainable Development Goals. Es handelt sich um 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, die von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden.

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